Arianna Huffington warnt: „Die westliche Unternehmenskultur beruht auf Stress, Schlafentzug und Burnout“

Die Unternehmerin und Online-Pionierin Arianna Huffington fordert in ihrem aktuellen Buch, unser Verständnis von Erfolg neu zu definieren. Cicero, das Magazin für politische Kultur, führte mit ihr ein Gespräch über Zeithunger, die Magie des Nickerchens und eine neue Frauenrevolution.

Sie schreiben, wir befinden uns auf der „Herzinfarktstraße nach Stress City“ und fordern, dass eine globale Neudefinition von Erfolg stattfindet: Was schwebt Ihnen da vor?
Wenn jemand Geld und Macht hat, wird er allgemein schon als erfolgreich angesehen. Ich spreche im Englischen von einer „Third Metric“, einer dritten Maßeinheit, die über Geld und Macht hinausgeht und etwas über das Wohlbefinden, die Zufriedenheit und die Gesundheit aussagt. Die westliche Unternehmenskultur beruht jedoch auf Stress, Schlafentzug und Burnout – das alles nehmen wir in Kauf. Wie müde und ausgepowert eine erfolgreiche Person ist, spielt keine Rolle. Dabei brauchen wir Freiräume, regelmäßige Pausen und auch mal Stille, um uns zu regenerieren.

Sie glauben tatsächlich, dass gerade ein Aufwachen im globalen Maßstab stattfindet?
Immer mehr wissenschaftliche Studien und medizinische Statistiken der Industrieländer zeigen, dass unsere bisherige Lebensweise – unsere Prioritäten und Werte – nicht funktionieren, dass sie eben keine innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit bringen. Immer mehr Menschen weigern sich, zum Opfer dieser Lebensweise zu werden. Viele prominente Vertreter aus Wirtschaft und Medien sprechen inzwischen öffentlich sowohl über Burnout als auch über Techniken, wie sie Stress kompensieren.

Sie meditieren täglich. Wäre die Meditation ein geeignetes Heilmittel?
Die transzendentale Meditation gilt längst nicht mehr als eine Art New-Age-Weltflucht. Es wird erkannt: Die Praxis der Meditation befähigt uns auf produktivere, gesündere und weniger stressbelastete Weise, an der Welt teilzunehmen. Steve Jobs hat sein Leben lang meditiert. Lena Dunham, Oprah Winfrey, Jerry Seinfeld und Rupert Murdoch, um nur einige zu nennen, sprechen offen über die positive Wirkung der Meditation in ihrem Alltag. Es gibt kaum etwas so Einfaches und so Wirkungsvolles wie die Meditation.

In Ihrem Freundeskreis gibt es das Smartphone-Stapeln. Was ist das?
Wenn wir ins Restaurant gehen, legen wir unsere Blackberries und iPhones auf einen Stapel in der Mitte des Tisches. Wer zuerst danach greift, zahlt die Rechnung.

Auf Frauen hat Stress angeblich noch größere körperliche Auswirkungen als auf Männer.
Frauen in stressintensiven Berufen haben ein um fast 40 Prozent höheres Risiko für Herzerkrankungen und ein um 60 Prozent höheres für Diabetes Typ 2. In den letzten 30 Jahren, in einer Zeit also, in der Frauen große Fortschritte im Berufsleben gemacht haben, ist einer Studie zufolge der gefühlte Stressquotient amerikanischer Arbeitnehmer um 18 Prozent gestiegen. Unser gegenwärtiger Erfolgsbegriff wurde von einer männerdominierten Unternehmenskultur geschaffen. Für Frauen funktioniert dieser aber erst recht nicht. Deswegen steigen auch viele erfolgreiche Frauen wieder aus.

Frauen sollten stattdessen eine dritte Frauenrevolution starten?
Frauen müssen für ein Umdenken kämpfen, weil sie Stress noch stärker betrifft und weil Männer dies bis jetzt nicht gemacht haben. Männer werden auch davon profitieren, wenn sich etwas ändert. Die erste Frauenrevolution wurde von Frauen geführt, die sich das Wahlrecht erkämpften. Die zweite, und die ist noch nicht abgeschlossen, führte zu mehr Mitsprache in der Gesellschaft und Zugang zu den Zentren der Macht. Und die dritte muss sein, die Strukturen in Unternehmen so zu verändern, dass eine gesündere, stressfreiere Arbeitskultur herrscht.

Heißt das auch: mehr Projektarbeit?
Wer qualifizierte Mütter wieder zurück ins Berufsleben holen will, sollte ihnen ein Projekt und eine Deadline geben. Ein festes Büro und feste Arbeitszeiten verhindern leider oft, dass wir Ressourcen optimal nutzen.

Ist es dann nicht ein Rückschritt, wenn sich Yahoo-Chefin Marissa Mayer öffentlich gegen das Home-Office ausspricht?
Ich habe neulich gerade mit Marissa Mittag gegessen. Sie ist eine wunderbare Frau und Mutter. Die Presse hat das aufgeblasen. So radikal hat sie das nie formuliert. Sie sieht inzwischen die Vorteile für die Mitarbeiterinnen.

Was ist Zeithunger?
In der Forschung gibt es inzwischen einen Begriff für unser stressgeprägtes Gefühl, nie genug Zeit für die Dinge zu haben, die wir tun wollen. Das ist typisch für die westliche Kultur. Permanente Erreichbarkeit, Halbaufmerksamkeit, Multitasking, so kommen wir nicht weiter.

Sie schreiben: Schlafen Sie sich nach oben! Erklären Sie das bitte.
Die größte Schwachstelle unserer fehlgeleiteten Definition von Erfolg ist die Annahme, dass Überarbeitung zu Spitzenleistungen und den besten Ergebnissen führt.

Auch in Deutschland sind die Fehlzeiten wegen psychischer Belastungen stark gestiegen. 2013 waren es 61,5 Millionen Ausfalltage. Brauchen wir eine „Anti-Stress-Verordnung“, wie sie die Sprecherin für Arbeitspolitik der Linksfraktion fordert?
Der Zusammenhang zwischen Überarbeitung und Produktivitätsverlust in Volkswirtschaften ist längst erfasst. Überstunden sollten nicht mehr allgemein bewundert, sondern stigmatisiert werden. Die Unternehmen müssen mehr in die Gesundheit investieren. Etwa 35% der großen und mittelständischen Arbeitgeber in den USA bieten immerhin schon Stressabbauprogramme an. Apple, Nike und Procter & Gamble zum Beispiel. Auch wir bieten in der New Yorker Redaktion der Huffington Post Meditation und Yogakurse an, außerdem kann man sich Räume buchen, um dort ein Nickerchen zu machen.

Sollte der Staat uns mehr Schlaf verordnen?
Wir geben in Amerika sogar damit an, mit wenig Schlaf auszukommen. Dabei ist Schlaf die am meisten unterschätzte gesunde Eigenschaft. Es gibt eine Studie in Science, die sagt, bei Menschen mit Schlafmangel sorge eine Stunde mehr Schlaf auf Dauer für mehr Zufriedenheit als eine Gehaltserhöhung. Ausreichend Schlaf steigert zudem die Arbeitsleistung. Es sollte selbstverständlich werden, in Büros auch Nickerchen zu machen. Durch Übermüdung werden viele Fehlentscheidungen getroffen, die Unternehmen Geld kosten. Bill Clinton hat mal gesagt, dass alle entscheidenden Fehler, die er gemacht hat, ihm wegen Übermüdung unterlaufen sind.

Haben Sie Angst, von Skeptikern als Esoterikerin abgestempelt zu werden?
Indem ich die aktuellen Studien, Wissenschaftler und Wirtschaftsgrößen zitiere, sehen hoffentlich auch die letzten, dass es nachweislich einen besseren Weg gibt, sein Leben zu führen, als sich konstant vom Stress treiben zu lassen. Ein Weg, der einen unmittelbaren und messbaren Effekt auf die Gesundheit hat.

Sie finden, man sollte sich ruhig schon zu Lebzeiten die eigene Grabrede vorstellen.
Wir verschwenden viel Zeit mit Dingen, die wir in unserer Grabrede bestimmt nicht gern hören würden: „Sie arbeitete ununterbrochen. Sie aß am Schreibtisch. Jeden Tag.“ Oder: „Sie hatte zwar keine richtigen Freunde, dafür 600 Facebook-Freunde und beantwortete jeden Abend stundenlang E-Mails.“ Oder: „Seine Power-Point-Präsentationen waren immer aufs Sorgfältigste vorbereitet.“ In Grabreden geht es natürlich um andere Dinge. Sie unterliegen nicht den Zwängen unserer gegenwärtigen verzerrten Erfolgsdefinition. Die gute Nachricht: Jeder Einzelne von uns hat noch immer Zeit, der bestmöglichen Grabrede gerecht zu werden, die man sich nur vorstellen kann.

Interview mit Arianna Huffington.
Publiziert am 29. September 2014 von Cicero – Magazin für politische Kultur.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von www.cicero.de