Wir möchten informiert und am Puls der Zeit sein und konsumieren deshalb nicht nur ein Medium. Morgens hörst du im Auto die Nachrichten, später hörst du es von Kollegen am Arbeitsplatz, liest es im Instagram- oder Facebook-Feed und sieht es am Abend nochmal im TV. Und so passiert es, dass die eigentlich selbe Meldung durch die Wahrnehmung auf verschiedenen Plattformen eine viel stärkere, extremere Gewichtung mit sich bringt, als wenn man – wie früher – nur einmal am Tag die Nachrichten gesehen oder die Tageszeitung gelesen hat.
Wir befinden uns quasi in einem Informationsbombardement, das zwar durchaus positiv sein kann, aber auch dazu führt, dass man mit Meldungen überstimuliert wird. Gerade in Zeiten, in denen Print, Online und TV voll sind mit erschreckenden Nachrichten und beklemmenden Zukunftsszenarien. Häufig werden Themen von vermeintlichen Fachleuten zu einem Zeitpunkt dramatisiert, zu dem selbst ausgewiesene Experten noch keine wirkliche Aussage über deren tatsächliche Auswirkung machen können. Die Folge, wir fühlen uns kognitiv überlastet, der latente Angstpegel steigt und wir machen uns mehr und mehr Sorgen. PlusPerfekt sprach mit Dr. Ilona Bürgel über Ängste, Reizüberflutung und wie wir der Angstspirale entkommen können. Die Diplom-Psychologin und Autorin zählt im deutschsprachigen Raum zu den führenden Vertreter|innen der Positiven Psychologie. Ihre Vision ist es, ein positives Feld zu schaffen, in dem jeder selbst gut für sich sorgt und zu schätzen weiß, was wir sind und haben.
Frau Dr. Bürgel, was macht Angst mit uns? Wie wirkt sich Angst auf unseren Alltag aus?
Dr. Ilona Bürgel: Ich starte einmal mit der Unterscheidung unserer Gefühle in angenehm und unangenehm. Früher habe ich die Begriffe positiv und negativ verwendet. Doch das lenkt uns in eine falsche Richtung. Denn auch unangenehme Gefühle wie Angst oder Wut sind wichtig für uns. Sie machen uns aufmerksam, fokussieren unsere Aufmerksamkeit und veranlassen uns zum Handeln. Deshalb fühlen sie sich so unangenehm an. Sie schützen uns. Es ist wichtig, auf einer schmalen Treppe ohne Geländer mit Absturzgefahr Angst zu haben damit wir vorsichtig laufen. Weil diese Gefühle sich so unangenehm anfühlen, wollen wir sie nicht fühlen. Vor allem dann, wenn es sich um persönliche Situationen handelt und wir uns ihnen ausgeliefert fühlen. Versuchen wir sie zu verdrängen, wegzuessen, wegzutrinken, wegeinzukaufen kommen sie immer wieder und werden größer.
Der Nachteil von negativem Stress, wie er zum Beispiel durch Angst ausgelöst werden kann ist, dass unser Körper und Geist automatisch mit mehr nachteiligen als förderlichen Reaktionen antworten. Die Atmung wird flacher, die Durchblutung schlechter, wir schlafen nicht mehr und erholen uns damit nicht. Wir bekommen den „Tunnelblick“ und sehen nur noch das Problem, aber den Rest des guten Lebens und unsere Wahlmöglichkeiten rechts und links nicht mehr.
Leider macht Stress süchtig. Ein Gehirn, das viel des Stresshormons Cortisol gewohnt ist, schafft immer wieder Situationen, wo es ausgeschüttet wird. Die Mandelkerne, also die Stressverarbeitungsstellen im Gehirn, werden durch häufige Angst größer und empfindlicher. In der Folge wird es immer leichter, Angst zu haben.
Hinzu kommt, dass unser Gehirn bevorzugt nach Problemen und Katastrophen Ausschau hält. Auch das dient uns. Wenn ein Auto bei Rot über den Fußgängerweg rast merken wir auf und können zurück springen. Doch es hat sich verselbständigt. Beim Mittag oder Abendessen sprechen wir nicht über das leckere Essen, die freundlichen Kunden und Kollegen sondern über das eine Telefonat, die eine schlechte Nachricht, die uns die Stimmung verdorben haben. So entsteht ein völlig verzerrtes Bild von unserer Welt.
Schließlich seien noch die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen erwähnt. Wir verhalten uns so, dass das, was wir fürchten, eintritt. Wenn wir Prüfungsangst haben und daran denken, dass wir bestimmt wieder stottern, dann haben wir solche Angst davor, dass wir schlecht schlafen und dann so nervös sind, dass wir stottern.
Wie geht es dabei Menschen, die eh schon Ängste haben und verunsichert sind?
Dr. Ilona Bürgel:
Unser Gehirn folgt einem so genannten Bestätigungsirrtum. Wir nehmen das wahr, was wir denken, erwarten und fürchten. Alle anderen Informationen werden schon heraus gefiltert bevor sie in das Bewusstsein kommen. Machen Sie einen kleinen Test. Schauen Sie sich in Ihrem Zimmer um und suchen Sie nach fünf Dingen, die weiß sind. Schreiben Sie diese auf. Und nun schließen Sie die Augen und versuchen Sie, sich an Dinge zu erinnern die grün sind. Es wird Ihnen schwer fallen. Sie sind da, auch rot und blau und braun, doch Ihre Aufmerksamkeit hat sie ausgeschlossen.
Wenn man schnell ängstlich wird, sollte man sich ganz bewusst an Menschen orientieren, die immer die Ruhe bewahren und gelassen bleiben. Sie können ein Vorbild sein für ängstliche Momente. Sie könnten sich fragen, wie würde diese Person jetzt reagieren und es nachmachen.
Was kann ich tun, wenn diese ganzen negativen Meldungen wie eine Welle über mir zusammen schwappen und ich niemanden habe, mit dem ich mich darüber austauschen kann?
Dr. Ilona Bürgel:
Ich empfehle generell, sich persönliche Spielregeln für den Konsum von Nachrichten aufzustellen. Ich sage Ihnen, wie ich das handhabe. Als erstes habe ich alle Push Nachrichten auf dem Smartphone ausgeschaltet. Weil absolut immer nur negative „Eilmeldungen“ kommen. Allein der Begriff sorgt für ein mulmiges Gefühl, selbst wenn ich im Dezember vor Schnee gewarnt werde. Dann habe ich alle Töne von eingehenden E-Mails unter anderem ausgestellt. Das Gehirn antwortet immer mit einer Orientierungsreaktion wenn irgendwo etwas geschieht. Ich möchte mein Gehirn davon abschirmen. Denn sonst bin ich immer von einem kleinen Computer fremdbestimmt und gehetzt.
Bei online Nachrichten wähle ich die Dinge, die mich konkret betreffen. Diese schaue ich mir gezielt an, wenn ich sie wirklich brauche zum Beispiel die Öffnungszeit eines Restaurants oder die Zutrittsbedingungen für die Bibliothek. Ansonsten gebe ich mir ein Zeitlimit wenn ich online bin. Denn alle haschen sehr ausgeklügelt nach meiner Aufmerksamkeit. Ich verliere dabei Zeit und Kraft, kaufe Dinge die ich nicht brauche und fühle mich unzufrieden, weil ich nicht das tue, was ich wollte. Und ich schaue höchstens einmal am Tag allgemeine Nachrichten im Internet an. Dies möglichst nachmittags. Denn morgens verderben mir schlechte Nachrichten, die mich meist gar nicht betreffen, die gute Laune, den Tag. Abends kann ich nicht schlafen, weil ich die schlimmen Fotos nicht vergesse. Für Fortgeschrittene wäre es, Nachrichten mit besonders reißerischen Schlagzeilen oder Fotos gar nicht zu öffnen. Weil wir Menschen automatisch mitfühlen. Dann verderbe ich mir nur selbst meine kostbare Lebenszeit. Interesse oder Mitgefühl sind wertvoll. Doch sie dürfen sich nicht gegen uns richten.
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Einerseits scheint es eine Lösung zu sein sich medial auszuklinken, andererseits muss man in der aktuellen Situation auch gut informiert sein. Haben Sie Tipps, wie ich diesem Dilemma entkommen kann? Und welche Rolle spielen die sozialen Medien in diesem Gefüge?
Dr. Ilona Bürgel:
Wie bei Nachrichtendiensten, Radio oder Fernsehen auch können wir den schwarzen Peter nicht nur auf die andere Seite schieben. Denn wir schalten ja ein und wählen die Sendung aus. Wir könnten auch lesen, mit Freunden Plätzchen backen oder etwas für unsere Weiterbildung tun. Wir haben eine Wahl.
Unser Gehirn hat ein großes Wachstumspotential, was auf Neugierde beruht. Leider fällt es uns beim Medienkonsum auf die Füße. Weil wir ständig Angst haben, etwas zu verpassen oder nicht dazu zu gehören. Letztes ist eine der größten Ängste von uns Menschen. Deshalb gehen wir immer wieder online, um irgendwie dabei zu sein. Natürlich auch, um unsere Ansichten bestätigt zu finden.
Es tut gut, Anteilnahme und Bestärkung zu erfahren, wenn man etwas von sich erzählt. Das gibt ein Gefühl von Zusammenhalt, der in Krisenzeiten wirklich nötig ist. Alles in Maßen wäre eine gute Idee. Denn wir werden von medialer Aufmerksamkeit schnell abhängig und erleben dann noch mehr Unzufriedenheit wenn andere nicht wie erhofft reagieren.
Was kann ich tun, um meine Ängste in den Griff zu bekommen?
Dr. Ilona Bürgel:Holen Sie sich Ihr Leben zurück
indem Sie niemanden über Ihr Befinden bestimmen lassen. Beschließen Sie, ein gutes psychologisch reiches Leben zu leben. Da gehören auch Krisen und Kummer dazu. Doch wir bestimmen selbst, womit wir uns wie lange befassen und damit wie wir uns fühlen. Es ist wie bei Schokolade. Mal ist sie süß, mal bitter, mal muss man sich an Nüssen durchbeißen, mal schlingt man zu schnell, mal genießt man in Ruhe. Tun Sie, was Sie schon immer tun wollten. Ihr Englisch verbessern, ein gutes Buch lesen, regelmäßig Yoga üben. Wir haben doch jetzt die Zeit, die wir immer für uns haben wollten. Kochen Sie frisch, ruhen Sie sich mehr als sonst aus.
Sorgen Sie gut für sich.
ICH GUT. ALLES GUT. ist meine Parole. Wenn es uns gut geht, sind wir weniger anfällig für Stress und Sorgen. Wir schöpfen aus vollen Batterien statt aus leeren. Wir streiten uns nie wenn wir glücklich vom Yoga kommen, sondern wenn wir am Ende der Kraft sind. Wir können auch nur dann gut und gern für andere da sein, wenn wir etwas zum Abgeben haben.
Gleichen Sie aus.
Angst gehört zum Leben. Einige Forscher arbeiten daran, eine Ausgleichsformel für unangenehme Gefühle zu erarbeiten. Wahrscheinlich läuft es auf drei zu eins hinaus. Mindestens. Also auf einmal Aufregung, Angst, Ärger brauchen wir drei gute Gefühle oder Gedanken, um gesund und glücklich zu bleiben. Das klingt schwieriger, als es ist. Unser Leben ist immer, auch in Krisen, voller guter, schöner, gelingender, angenehmer, erfreulicher, hilfreicher Dinge. Wir müssen sie nur wahrnehmen und uns dessen bewusst werden.
Woran merke ich, was noch normal ist und bei welchen Angstzuständen ich mir besser Hilfe suchen sollte?
Dr. Ilona Bürgel:
Ich empfehle, sich auch in normalen Zeiten Hilfe zu suchen. Denn die Anforderungen unseres Lebens sind insgesamt sehr hoch. Das kann schon ein Kolleg|in sein oder die Nachbar|in, die man um einen Rat fragt. Allerdings sollte man klar unterscheiden, ob man sich nur Bestätigung seiner Angst holen will und gemeinsam schimpft, oder ob man wirklich ein gutes Wort oder einen Rat annimmt.
Im Internet gibt es viele tolle Übungen und Meditationen auf Youtube, um Angst abzubauen. Es gibt online Seminare und Ratgeber die nützlich für die Selbstreflektion sind, warum ich mich fühle, wie ich mich fühle. Wenn ich merke, das reicht nicht, ich kann mich durch nichts beruhigen, das Herz jagt, ich habe oft Durchfall, schlafe nicht mehr, traue mich nicht mehr aus dem Haus, bekomme Rückmeldungen von anderen, ob etwas mit mir nicht stimmt, wäre die nächste Anlaufstelle der Hausarzt oder Betriebsarzt. Dort kann genau diagnostiziert werden, wo man steht. Gegebenenfalls erfolgt eine Überweisung zur Psychotherapie. Auch Sorgentelefone der Städte oder Kirchen geben Halt in Ausnahmesituationen.
Ich befürworte immer gern die Hilfe zur Selbsthilfe. Solange keine Angststörung diagnostiziert wurde empfehle ich immer, sich Selbstlernkurse, Coachings, Mentoring und ähnliches zu suchen. Arbeit an sich ist oft anstrengend und langwierig. Weil wir ja auch nicht erst seit einem Jahr Angst haben. Angst und Depressionen waren schon vor der Pandemie eine der häufigsten Krankschreibungsursachen. Sie können auch ein Glückstandem mit einer Kolleg|in, Freund|in, Bruder oder ähnlichen bilden und sich jeden Tag bewusst gute Nachrichten senden. Alles, was relativiert, ablenkt und gut tut, passt.
Gibt es einen schnellen Notfall-Tipp, wenn ich merke, meine Gedanken schlittern in eine Angstspirale?
Dr. Ilona Bürgel:
Sprechen Sie mit sich. Fragen Sie sich „Was ist hier und jetzt“ um mit ihren Gedanken in die Gegenwart zu kommen. Meistens sitzen wir auf dem Sofa, haben es warm, sind satt und unsere Gedanken sind irgendwo. „Hier ist es warm. Jetzt hole ich mir einen Tee. Hier ist es ruhig. Jetzt lese ich“, könnten Antworten sein. Sprechen Sie sich gut zu.
„Du schaffst das.“
„Es ist immer alles gut gegangen.“
„Du bist mein lieber Schatz.“
Ich schreibe mir solche Nachrichten als SMS Monate im voraus und freue mich jedes Mal, wenn sie eintreffen.
Nutzen Sie positive Affirmationen. Suchen Sie sich einen Coach oder Yoga-Lehrer auf Youtube, der Ihnen gut tut und starten Sie gleich früh mit dem Hören von Affirmationen. Sie können auch im Hintergrund zum Zähne putzen laufen. Entwickeln Sie ein Tagesmotto, zum Beispiel„Ich bekomme heute eine gute Nachricht“. Oder „je besser es mir geht, um so besser ist mein Leben.“
Lächeln Sie so viel wie möglich. Immer wenn etwas schlimmes Sie beschäftigt und Sie das merken, kombinieren Sie Ihren Atem mit einem Lächeln.
Ich lächle ein, ich lächle aus.
Ich lächle ein, ich lächle aus.
Lächeln baut Stress ab. Es gibt immer einen Grund. Ihre schöne Wohnung, Ihr Haustier, den Lieblingspullover, die schöne Stadt, in der Sie leben.
Lenken Sie sich ab. Tun Sie etwas was Ihren Geist beschäftigt. Kreuzworträtsel, schreiben Sie dankbare Gedanken, oder zählen Sie rückwärts von 100 bis Null und von vorn. Schnippen Sie dabei mit den Fingern. Bleiben Sie dran. Immer wieder. Unsere Ängste haben wir schon lange. Die Ängste „wissen“ genau, worauf wir reagieren. Doch wir sitzen am längeren Hebel. Wenn wir das wollen und dran bleiben.
Unser Lesetipp!
Ein Buch voller schöner Überraschungen! Kleine Geschichten aus dem Alltag, mitten aus dem Leben. Immer mit einem guten Ende. Getreu dem Motto “ICH GUT. ALLES GUT” zeigt Dr. Ilona Bürgel, wie du durch gute Gedanken, Optimismus oder eine andere Perspektive in jeder Situation angenehme Überraschungen erleben kannst.
Perfekt als Auszeit, als Energiebringer, zur Motivation und zur Unterhaltung. Für alle, die sich manchmal zu viele Gedanken machen, aber nicht die guten. Die kurze Stories lieber mögen als dicke Schmöker. Die sich für psychologische Themen interessieren, gerne lachen und denen ihr eigenes und das Glück anderer am Herzen liegt.
Das Taschenbuch hat 80 Seiten und kostet 9,80 Euro. Erhältlich ist es beispielsweise via Amazon.
– Erstveröffentlichung 12. Dezember 2021 –