Es ist noch ein weiter Weg bis zur Gendermedizin. Bspw. kommt ein Herzinfarkt bei Männern häufiger vor, aber gerade junge Frauen sterben eher daran als gleichaltrige Männer. | Foto: Karolina Grabowska via Pexels

Gendermedizin: Der fehlende Fokus, oder warum Frauen am Herzinfarkt sterben

Die Frau ist nur ein unvollständiger Mann, sagte einst Aristoteles und bis heute scheinen das so oder ähnlich auch viele Mediziner|innen zu denken. Obwohl in Deutschland seit fast 125 Jahren Frauen Medizin studieren und inzwischen zwei Drittel der Plätze in den Hörsälen besetzen, sickert das Bewusstsein für relevante Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Körper nur langsam in die führenden Köpfe von Forschung und Lehre ein. Auch in der angewandten Medizin fehlt noch immer der Fokus auf die Besonderheiten des Frauenkörpers. Diese Ignoranz ist gefährlich.

– Foto: Karolina Grabowska via Pexels –

Der Mann als Prototyp

Schon viel zu lange ist der Mann der universelle Patient, der Prototyp also, an dem sich jegliche medizinische Behandlung ausrichtet. Studien werden maßgeblich an Männern vorgenommen, Dosierungen und Applikationsformen nicht an die Besonderheiten des weiblichen Körpers angepasst. Die Frau gilt vielleicht nicht mehr als unvollständig, aber doch als zu klein geratener Mann. Auch in der Anamnese wird selten berücksichtigt, wie unterschiedlich Männer und Frauen ihre Krankheiten wahrnehmen und ihre Beschwerden beschreiben. All das kann böse Folgen haben.

Bekanntestes Beispiel ist der Herzinfarkt. Zwar kommt er bei Männern häufiger vor, aber gerade junge Frauen sterben eher daran als gleichaltrige Männer. Vielfach werden Infarkte bei Frauen gar nicht oder spät erkannt, weil sie beispielsweise über Bauchschmerzen, Atemnot und Schweißausbrüche klagen, aber nicht über die klassischen Brustschmerzen. Im Jahr 2021 sind in Deutschland sechs Prozent mehr Frauen als Männer an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung gestorben (Quelle: Statistisches Bundesamt).

Dazu zählten auch Lungenembolien, also Blutgerinnsel, die aus Thrombosen entstehen. Hormone sind dafür verantwortlich, dass Frauen ein deutlich höheres Risiko für Thrombosen haben, wenn sie die Pille nehmen, schwanger sind oder eine Hormonersatztherapie zur Behandlung ihrer Wechseljahrbeschwerden verordnet bekommen. Aber wie viele Frauen sind über dieses höhere Risiko informiert und wissen, wie sie sich schützen können?

Gendermedizin: Manche Medikamente müssten höher dosiert werden

Ein anderes Beispiel für körperliche Unterschiede abseits der Geschlechtsorgane ist die Leber: Auf den ersten Blick in Form und Funktion bei allen gleich, finden sich tief in den Zellen Unterschiede – zum Beispiel beim Enzym CYP3A4, das beim Abbau verschiedener Medikamente hilft und auch im Darm aktiv ist. Bei Frauen ist dieses Enzym doppelt so rege wie bei Männern. Das Ergebnis: Ein Teil der Medikamente, die Patientinnen verschrieben bekommen, lässt bei ihnen in der Wirkung schnell nach und muss deshalb höher dosiert werden.
Die Liste ließe sich fortsetzen: Im Gehirn, im Immunsystem, in den Nieren, den Knien, den Gefäßen – fast überall gibt es für die medizinische Behandlung relevante Unterschiede zwischen Männer- und Frauenkörpern.

Auch Männern kann Gleichmacherei in der Medizin zum Verhängnis werden: Depressionen zum Beispiel werden bei ihnen ebenso wie die Osteoporose seltener erkannt und behandelt. Die Behauptung: „Frauen bekommen Psychopharmaka, Männer Herztabletten“ ist zwar überspitzt, hat aber durchaus einen wahren Kern.

Noch ein weiter Weg bis zur Gendermedizin

Es ist dringend an der Zeit, genauer hinzusehen – in der Ärzteschaft, in den medizinischen Fakultäten, in der Politik, in der gesamten Gesellschaft. Vor allem aber werden frische Erkenntnisse in der Grundlagenforschung und neue Medikamentenstudien gebraucht, damit Krankheiten dem Geschlecht entsprechend erfolgreich behandelt werden können. Solange in großen klinischen Studien nur etwa ein Viertel der Teilnehmer|innen Frauen sind, kann sich die Situation kaum verbessern. Bis zu einer im Alltag gelebten Gendermedizin ist es noch ein langer Weg.

Über Dr. med. Kerstin Schick

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Die Ärztin und Autorin Kerstin Schick (Venusvenen. So werden Frauenbeine gesund, stark und schön, Bastei Lübbe, ISBN-13: 978-3431070453) studierte Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg mit Auslandsaufenthalten u. a. in Oxford und Harvard. Nach der Facharztausbildung ist sie seit 2014 als Gefäßchirurgin und Phlebologin Mitinhaberin einer Gemeinschaftspraxis. Sie ist Vorstandsmitglied in diversen Berufs- und Fachverbänden und engagiert sich zudem für Frauen in der Chirurgie. Die Mutter von drei Kindern lebt mit ihrer Familie in München.

tb
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