Credits: Gillette

Christin Thomsen zur Gillette-Kampagne: Und plötzlich seh ich dicke Menschen!

Anna O´Brien. Ein Name, der steil durch die Medien geht. Auch nach gut zwei Wochen wird über eine Werbung gesprochen, die anscheinend mitten ins Schwarze getroffen hat.

Unglaublich. Werbewirksam.

Wie kann Gillette es nur wagen, eine Werbefigur zu nehmen, die auch noch nach zwei Wochen im Gespräch ist? Mit Wiedererkennungswert und so polarisierend, dass sich nicht nur die dazu äußern, die das gut finden. Nein, auch die, die das visuell scheinbar nicht aushalten, sind fleißig dabei die Reichweite dieser Beiträge gewaltig nach oben zu treiben. An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an Euch, das nenn ich mal easy going. Wenn man doch sonst so um Aufmerksamkeit kämpft in der Werbebranche, wird einem die hier regelrecht hinterher geworfen. Jeder spricht oder schreibt darüber. Baaaaaaaaaam! Da sag nochmal einer, diese Werbung wäre nicht gut durchdacht.

0815-Werbefiguren werden gesehen, werden vergessen. Man muss sich so abheben, einen der nervigsten Werbejingles überhaupt haben oder ein Produkt, das alle haben wollen. Koste es was es wolle. Diese Werbung schießt damit durch die Decke, dass man nicht das sieht, was das Auge gewohnt ist: Fotografisch glatt gezogenes Fleisch a la 90 – 60 – 90. Jetzt gibt es die, die das feiern und die, die so schnell geerdet wurden, dass sie gar nicht wissen wohin mit all der Menschlichkeit, ihren Kraftausdrücken und gut gemeinten Weisheiten. Aber, geben wir diesen Menschen mit einer durch die Medien verblendete Wahrnehmung doch die Möglichkeit sich damit anzufreunden, dass vielleicht nicht immer alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Dass Menschen Dellen, Cellulite und Fett haben. Klein sind und gross, dick und dünn. Ein Hoch auf diese Unterschiedlichkeit und vor allem Willkommen im echten Leben.

Augen auf beim Eierkauf

Wer sich Werbung anguckt – bewusst – wird feststellen, dass jene die Nase vorn haben, die mit Werbefiguren mit einem hohen Wiedererkennungswert arbeiten oder eine so signifikante Musik haben, dass wir sie nie wieder los werden. Und Werbung wird für alles gemacht. Ob es Reisen sind, Medikamente oder das neue schicke Auto. Manchmal zieht der Mainstream-Typ besser, zum Beispiel zum Präsentieren von Mode. Es ist besser die Mode zu sehen, als den Typ dahinter. Dieser darf elegant gepflegt hinter dem Produkt verschwinden. Das Gesamtbild ist stimmig. Oder man kommt mit einem Typen um die Ecke, der sich so abhebt von dem was das Auge gewöhnt ist und polarisiert erst mal. Hier bleibt beides im Hirn hängen. Das Kind hat hier nämlich einen Namen. Anna O´Brien. Im Normalfall kennen wir, bis auf den netten Mann, der für „Tech-Nick“ Werbung macht, fast keinen beim Namen. Die Strategie geht aber auf. Alles spricht oder schreibt von Anna O´Brien und Gillette.

Auch hier ist zu unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau mit ausladenden Proportionen Werbung macht und wie lange das Auge mit visueller Unterschiedlichkeit getriggert wird. Ist es die lustig angemalte Dralle, die im Pool auf einem Riesen-Donut chillt und nur kurz eingeblendet zu sehen ist und eine Reise oder Kredit bewirbt, geht’s wieder klar. Ist es der kugelbäuchige Kerl, der sich sein Feierabend Bier aufmacht und sich verschwitzt die Stirn wischt und einen Baumarkt bewirbt, auch. Aber eine halbnackte Anna O´Brien, die mit einer unglaublichen Lebensfreude glänzt und Rasierer bewirbt, ist dann als Printauflage too much. Warum eigentlich? Weil man sich nicht vorstellen möchte, dass sich Menschen oberhalb einer Kleidergrösse 48 auch rasieren ? Da pflegt sich ein Mensch. Toll. Sie lacht und scheint mit sich im Reinen zu sein. Auch toll. Seh nur ich das Problem nicht oder ist das Problem vielleicht ein ganz anderes?

Himmel, der Gesundheitsaspekt.

Würde die Überschrift lauten „Schon 70 kg abgenommen“, würde die Hälfte applaudieren. Hieße es „Cortison macht mir das Leben schwer, aber ich verlier nicht den Mut“, würde sich die Anzahl derer nochmal halbieren, die diese Dame da gerade im Internet mit Worten unterhalb der Gürtellinie belegen. Es gibt aber keine Überschrift wie diese. Und Menschen interpretieren, fachsimpeln mit halbgarem Fachwissen was der Dame wohl fehlt, sie lieber lassen sollte, welche Krankheit wohl dahinter steckt. Ob es wohl was ändern würde, wenn groß über ihrem Kopf „Diagnose nach ICD-10: Adipositas“ prangern würde? Headline „Anna ist krank, aber auch Anna rasiert sich und hat sogar Tage, an denen sie sich bewegt und schwimmen geht. An diesen Tagen freut sie sich immer am meisten.“

Sind nun alle glücklich?
Das ist es doch, was ihr lesen wollt.

Was wird denn hier bloß propagiert? Ja, das frage ich mich mittlerweile auch. Und zwar ernsthaft. Denn all das was man unter diesen Beiträgen an negativer Energie liest, dient zwar der Reichweiten-Erweiterung, ABER das Einzige, was ich hier als negativ ansehe, ist in erster Linie, dass man Kindern und Jugendlichen beibringt Menschen, mit offensichtlichen Makeln oder Anders sein auszuschließen. Dass es okay ist, sie im Internet anonym zu beleidigen, anderen eine hasserfüllte Meinung aufzudrücken, dass man meinen müsste, sie speien Gift und Galle. Lasst das bloß jeden Teenager lesen, der danach nie wieder ein Stück Brot isst, um ja nicht zuzunehmen. Denn der weiß ja nun was ihm blüht, wenn er nicht ordnungsgemäß in der Masse untergeht. Daraus werden Krankheiten, herbei geführt durch gesellschaftlichen Druck. Daraus wird Annorexie, Bulemie, Binge-Eating, Adipositas. Nicht alle halten dem Druck stand, versuchen den vermeintlichen idealen Körpervorstellungen nachzulaufen. Bis sie merken, dass Körper unterschiedlich sind.

Menschen neigen dazu, sich grundsätzlich das Negative zuerst zu greifen. Alles andere wäre auch zu viel gewollt. Man könnte ja noch schöne und liebenswerte Seiten an jemandem entdecken. Also:
Kernaussage der Werbung? Gillette ist für alle da. Jeden Körper. Wir schließen keinen aus. Schönsein und schön fühlen ist für alle da. Ihr wollt gesunde Vorbilder? Welche hätten’s denn gern? Die mit Burnout oder Depression, die mit Borderline oder Diabetes, Allergien? Alles Dinge, die man vielleicht nicht offensichtlich sieht, die aber da sind, auch bei Werbefiguren. Das ist menschlich.

Nothing else matters

Wer glaubt, dass er etwas in der Welt bewegt, indem er Worte findet, die andere beleidigen und entmutigen sollen, sollte sich ernsthaft fragen von was er beeinflusst ist. Denn wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht, wie unglaublich schön und bunt und differenziert wir alle sind. Nicht gefotoshoppt, nicht faltenlos, nicht mit ewig währender Haarpracht. Ich empfehle einen Strandspaziergang bei 30 Grad. Ich hab gehört, das soll unglaublich gut erden.

Wisst ihr was ich mache? Ich werde mir einen Gillette kaufen. Wenn die Werbung hält was sie verspricht, bin ich danach im Bikini am Strand, haarlos und hab den Spaß meines Lebens.

Also auf Mädels:
Wir sehen uns am Strand.
#annasgirls

Über die Autorin

Christin Thomsen 2Christin Thomsen, 1982 in Flensburg geboren, aufgewachsen und verwurzelt in Schleswig-Holstein, lebt seit Anfang 2019 mit Hund, zwei Katzen und ihrem Partner in einem kleinen Dörfchen an der Westküste Dänemarks. Sie gehört zu den ersten Frauen, die in Deutschland, England und Frankreich auf den Laufstegen für Plus Size Fashion in Konfektionsgröße 54 zu sehen war. Mit einem gutem Gespür für Styling und Mode folgten Fashion-Beiträge mit Trendsetzung im Plussize Bereich im TV. Auch die Werbung machte sich ihren hohen Wiedererkennungswert zu Nutze. Werbeaufträge für groß angelegte Kampagnen, Talkshow-Einladungen und Interviews für namhafte Magazine und Zeitungen reihten sich aneinander. Im Bereich Catwalk-Training und Choreographie oder als Ratgeberin in Sachen Body Positivity wird ihr Fachwissen gern genommen. Ein aufregendes Kapitel, ein Spagat zwischen Laufsteg und Alltag im Büro.

Christin schreibt ebenso als Autorin gnadenlos ehrlich, aber herzlich für das Magazin PlusPerfekt zu Themen, die sie bewegen. Und nimmt uns mit in eine Welt, die sich langsam daran gewöhnt, dass es Körperformen außerhalb der Norm und jede Menge Zündstoff gibt, über den wir reden müssen.

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